Ernst Haeckel, Die Welträtsel - 20. Kapitel

20. Kapitel

Lösung der Welträtsel

Rückblick auf die Fortschritte der wissenschaftlichen Welterkenntnis im 19. Jahrhundert. Beantwortung der Welträtsel durch die monistische Naturphilosophie.

Inhalt: Rückblick auf die Fortschritte des 19. Jahrhunderts in der Lösung der Welträtsel.

I. Fortschritte der Astronomie und Kosmologie. Physikalische und chemische Einheit des Universums. Metamorphose des Kosmos. Entwicklung der Planeten-Systeme. Analogie der phylogenetischen Prozesse auf der Erde und anderen Planeten. Organische Bewohner anderer Weltkörper. Periodischer Wechsel der Weltenbildung.
II. Fortschritte der Geologie und Paläontologie. Neptunismus und Vulkanismus. Kontinuitäts-Lehre.
III. Fortschritte der Physik und Chemie.
IV. Fortschritte der Biologie. Zellen-Lehre und Deszendenz-Theorie.
V. Anthropologie. Ursprung des Menschen.

Am Ende unserer philosophischen Studien über die Welträtsel angelangt, dürfen wir getrost zur Beantwortung der schwerwiegenden Frage schreiten: Wie weit ist uns deren Lösung gelungen? Welchen Wert besitzen die ungeheuren Fortschritte, welche das verflossene 19. Jahrhundert in der wahren Natur-Erkenntnis gemacht hat? Und welche Aussicht eröffnen sie uns für die Zukunft, für die weitere Entwicklung unserer Weltanschauung im 20. Jahrhundert, an dessen Schwelle wir stehen? Jeder unbefangene Denker, der die tatsächlichen Fortschritte unserer empirischen Kenntnisse und die einheitliche Klärung unseres philosophischen Verständnisses derselben einigermaßen übersehen kann, wird unsere Ansicht teilen: das 19. Jahrhundert hat größere Fortschritte in der Kenntnis der Natur und im Verständnis ihres Wesens herbeigeführt als alle früheren Jahrhunderte; es hat viele große "Welträtsel" gelöst, die an seinem Beginn für unlösbar galten; es hat uns neue Gebiete des Wissens und Erkennens entdeckt, von deren Existenz der Mensch vor hundert Jahren noch keine Ahnung hatte. Vor Allem aber hat es uns das erhabene Ziel der monistischen Kosmologie klar vor Augen gestellt und den Weg gezeigt, auf welchem allein wir uns demselben nähern können, den Weg der exakten empirischen Erforschung der Tatsachen und der kritischen genetischen Erkenntnis iherer Ursachen. Das abstrakte große Gesetz der mechanischen Kausalität, für welches unser kosmologisches Grundgesetz, das Substanz-Gesetz, nur ein anderer konkreter Ausdruck ist, beherrscht jetzt das Universum ebenso wie den Menschengeist; es ist der sichere unverrückbare Leitstern geworden, dessen klares Licht uns durch das dunkle Labyrinth der unzähligen einzelnen Erscheinungen den Pfad zeigt. Um uns davon zu überzeugen, wollen wir einen flüchtigen Rückblick auf die erstaunlichen Fortschritte werfen, welche die Hauptzweige der Naturwissenschaft in diesem denkwürdigen Zeitraum gemacht haben.

I. Fortschritte der Astronomie

Die Himmelskunde ist die älteste, ebenso wie die Menschenkunde die jüngste Naturwissenschaft. Über sich selbst und sein eigenes Wesen kam der Mensch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu voller Klarheit, während er in der Kenntnis des gestirnten Himmels, der Planeten-Bewegungen usw. schon vor 4 500 Jahren erstaunliche Kenntnisse besaß. Die alten Chinesen, Inder, Ägypter und Chaldäer kannten im fernen Morgenlande schon damals die sphärische Astronomie genauer als die meisten "gebildeten" Christen des Abendlandes viertausend Jahre später. Schon im Jahre 2 697 vuZ. wurde in China eine Sonnenfinsternis astronomisch berechnet und 1 100 vuZ. mittels eines Gnomons die Schiefe der Ekliptik bestimmt, während Christus selbst (der "Sohn Gottes!") bekanntlich gar keine astronomischen Kenntnisse besaß, vielmehr Himmel und Erde, Natur und Mensch von dem beschränktesten geozentrischen und anthropozentrischen Standpunkt aus beurteilte. Als größter Fortschritt der Astronomie wird allgemein und mit Recht das heliozentrische Weltsystem des Kopernikus betrachtet, dessen großartiges Werk: "De revolutionibus orbium coelestium" selbst die größte Revolution in den Köpfen der Menschen hervorrief. Indem er das herrschende geozentrische Weltsystem des Ptolemäus stürzte, entzog er zugleich der reinen christlichen Weltanschauung den Boden, welche die Erde als Mittelpunkt der Welt und den Menschen als gottgleichen Beherrscher der Erde betrachtete. Es war daher nur folgerichtig, dass der christliche Klerus, an seiner Spitze der römische Papst die unschätzbare Entdeckung des Kopernikus auf's heftigste bekämpfte. Trotzdem brach sie sich bald vollständig Bahn, nachdem Kepler und Galilei darauf die wahre "Mechanik des Himmels" gegründet und Newton ihr durch seine Gravitations-Theorie die unerschütterliche mathematische Basis gegeben hatte (1686).

Ein weiterer gewaltiger und das ganze Universum umfassender Fortschritt war die Einführung der Entwicklungs-Idee in die Himmelskunde; er geschah 1755 durch den jugendlichen Kant, der in seiner kühnen Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels nicht die "Verfassung", sondern auch den "mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes nach Newton's Grundsätzen" abzuhandeln unternahm. Durch das großartige "Système du monde" von Laplace, der unabhängig von Kant auf dieselben Vorstellungen von der Weltbildung gekommen war, wurde dann 1766 diese neue "Mécanique céleste" so fest begründet, dass es scheinen konnte, unserem 19. Jahrhundert sei auf diesem größten Erkenntnis-Gebiet nichts wesenlich Neues von gleicher Bedeutung mehr vorbehalten. Und doch bleibt ihm der Ruhm, auch hier ganz neue Bahnen eröffnet und unseren Blick in's Universum unendlich erweitert zu haben. Durch die Erfindung der Photographie und Photometrie, vor Allen aber der Spektral-Analyse (durch Bunsen und Kirchhoff, 1860) wurden die Physik und Chemie in die Astronomie eingeführt und dadurch kosmologische Aufschlüsse von größter Tragweite gewonnen. Es ergab sich nun mit Sicherheit, dass die Materie im ganzen Weltall dieselbe ist, und dass deren physikalische und chemische Eigenschaften auf den fernsten Fixsternen nicht verschieden sind von denjenigen unserer Erde.

Die monistische Überzeugung von der physikalischen und chemischen Einheit des unendlichen Kosmos, die wir dadurch gewonnen haben, gehört sicherlich zu den wertvollsten allgemeinen Erkenntnissen, welche wir der Astrophysik verdanken, einem neuen, höchst interessanten Zweig der Astronomie. Nicht minder wichtig ist die klare, mit Hilfe jener gewonnene Erkenntnisse, dass auch dieselben Gesetze der mechanischen Entwicklung im unendlichen Universum ebenso überall herrschen wie auf unserer Erde; eine gewaltige, allumfassende Metamorphose des Kosmos vollzieht sich ebenso ununterbrochen in allen Teilen des unendlichen Universums wie in der geologischen Geschichte unserer Erde; ebenso in der Stammesgeschichte ihrer Bewohner wie in der Völkergeschichte und im Leben jedes einzelnen Menschen. In einem Teile des Kosmos erblicken wir mit unseren vervollkommneten Fernrohren gewaltige Nebelflecke, die aus glühenden, äußerst dünnen Gasmassen bestehen; wir deuten dieselben als Keime von Weltkörpern, die Milliarden von Meilen entfernt und im ersten Stadium der Entwicklung begriffen sind. Bei einem Teil dieser "Sternkeime" sind wahrscheinlich die chemischen Elemente noch nicht getrennt, sondern bei ungeheuer hoher Temperatur (nach vielen Millionen Graden berechnet!) im Urelement (Prothyl) vereinigt; ja vielleicht ist hier zum Teil die ursprüngliche "Substanz" noch nicht in "Masse und Äther" gesondert. In anderen Teilen des Universums begegnen wir Sternen, die bereits durch Abkühlung glutflüssig geworden sind; wir können ihre Entwicklungsstufe annähernd aus ihrer verschiedenen Farbe bestimmen. Dann wieder sehen wir Sterne, die von Ringen und Monden umgeben sind wie unser Saturn; wir erkennen in dem leuchtenden Nebelring den Keim eines neuen Mondes, der sich vom Mutter-Planeten ebenso abgelöst hat wie dieser letztere von der Sonne. (Vergl. Wilhelm Bölsche, Entwicklungsgeschichte der Natur, 1894.)

Von vielen "Fixsteren", deren Licht Jahrtausende braucht, um zu uns zu gelangen, dürfen wir mit Sicherheit annehmen, dass sie Sonnen sind, ähnlich unserem eigenen Sonnensystems. Wir dürfen auch weiterhin vermuten, dass sich Tausende von diesen Planeten auf einer ähnlichen Entwicklungsstufe wie unsere Erde befinden, d. h. in einem Lebensalter, in welchem die Temperatur der Oberfläche zwischen dem Gefrier- und Siedepunkt des Wassers liegt, also die Existenz tropfbaren flüssigen Wassers gestattet. Damit ist die Möglichkeit gegeben, dass der Kohlenstoff auch hier, wie auf der Erde mit anderen Elementen sehr verwickelte Verbindungen eingeht, und dass aus seinen stickstoffhaltigen Verbindungen sich Plasma entwickelt hat, jene wunderbare "lebendige Substanz", die wir als alleinigen Eigentümer des organischen Lebens kennen. Die Moneren (z. B. Chromazeen und Bakterien), die nur aus solchem primitiven Protoplasma bestehen und die durch Urzeugung (Archigonie) aus jenen anorganischen Nitrokarbonaten entstanden, können denselben Entwicklungsgang auf vielen anderen, wie auf unserem eigenen Planeten eingeschlagen haben; zunächst bildeten sich aus ihrem homogenen Plasmakörper durch Sonderung eines inneren Kerns vom äußeren Zellkörper einfachste lebendige Zellen. Die Analogie im Leben aller Zellen aber - ebensowohl der plasmodomen Pflanzenzellen wie der plasmophagen Tierzellen - berechtigt uns zu dem Schluss, dass auch die weitere Stammesgeschichte sich auf vielen Sternen ähnlich wie auf unserer Erde abspielt - immer natürlich die gleichen engen Grenzen der Temperatur vorausgesetzt, in denen das Wasser tropfbar-flüssig bleibt; für glühend-flüssige Weltkörper, auf denen das Wasser nur in Dampfform, und für erstarrte, auf denen es nur in Eisform besteht, ist organisches Leben in gleicher Weise ganz unmöglich.

Die Ähnlichkeit der Phylogenie,

Die Analogie der stammesgeschichtlichen Entwicklung, die wir demnach bei vielen Sternen auf gleicher biogenetischer Entwicklungs-Stufe annehmen dürfen, bietet natürlich der konstruktiven Phantasie ein weites Feld für farbenreiche Spekulationen. Ein Lieblings-Gegenstand derselben ist seit alter Zeit die Frage, ob auch Menschen oder uns ähnliche, vielleicht höher entwickelte Organismen auf anderen Sternen wohnen? Unter vielen Schriften, welche diese offene Frage zu beantworten suchen, haben neuerdings namentlich diejenigen des Pariser Astronomen Camille Flammarion eine weite Verbreitung erlangt; sie zeichnen sich ebenso durch reiche Phantasie und lebendige Darstellung aus, wie durch bedauerlichen Mangel an Kritik und an biologischen Kenntnissen. Soweit wir gegenwärtig zur Beantwortung dieser Frage befähigt scheinen, können wir uns etwa Folgendes vorstellen:

I. Es ist sehr wahrscheinlich, dass auf einigen Planeten unseres Systems (Mars und Venus) und vielen Planeten anderer Sonnen-Systeme der biogenetische Prozess sich ähnlich wie auf unserer Erde abspielt; zuerst entstanden durch Archigonie einfache Moneren und aus diesen einzellige Protisten (zunächst plasmodome Urpflanzen, später plasmophage Urtiere).

II. Es ist sehr wahrscheinlich, dass aus diesen einzelligen Protisten sich im weiteren Verlauf der Entwicklung zunächst soziale Zellvereie bildeten (Zönobien), später gewebebildende Pflanzen und Tiere (Metaphyten und Metazoen).

III. Es ist auch fernerhin wahrscheinlich, dass im Pflanzenreich zunächst Thallophyten entstanden (Algen und Pilze), später Diaphyten (Moose und Farne), zuletzt Anthophyten (gymnosperme und angiosperme Blumenpflanzen).

IV. Es ist ebenso wahrscheinlich, dass auch im Tierreich der biogenetische Prozess einen ähnlichen Verlauf nahm, dass aus Blastäaden (Katallakten) sich zunächst Gasträaden entwickelten, und aus diesen Niedertieren (Zölenterien) später Obertiere (Cölomarien).

V. Dagegen ist es sehr fraglich, ob die einzelnen Stämme dieser höheren Tiere (und ebenso der höheren Pflanzen) einen ähnlichen Entwicklungsgang auf anderen Planeten durchlaufen wie auf unserer Erde.

VI. Insbesondere ist es ganz unsicher, ob Wirbeltiere auch außerhalb der Erde existieren, und ob aus deren phyletischer Metamorphose sich im Laufe von vielen Millionen Jahre ebenso Säugetiere und an deren Spitze der Mensch entwickelt haben wie auf unserer Erde; es müssten dann Millionen von Transformationen sich dort ganz ebenso wie hier wiederholt haben.

VII. Dagegen ist es viel wahrscheinlicher, dass auf anderen Planeten sich andere Typen von höheren Pflanzen und Tieren entwickelt haben, die unserer Erde fremd sind, vielleicht auch aus einem höheren Tierstamme, der den Wirbeltieren an Bildungsfähigkeit überlegen ist, höhere Wesen, die uns irdische Menschen an Intelligenz und Denkvermögen weit übertreffen.

VIII. Die Möglichkeit, dass wir Menschen mit solchen Bewohnern anderer Planeten jemals in direkten Verkehr treten können, erscheint ausgeschlossen durch die weite Entfernung unserer Erde von anderen Weltkörpern und die Abwesenheit der unentbehrlichen atmosphärischen Luft in dem weiten, nur von Äther erfüllten Zwischenraum.

Während nun viele Sternen-Planeten sich wahrscheinlich in einem ähnlichen biogenetischen Entwicklungs-Stadium befinden wie unsere Erde (seit mindestens hundert Millionen Jahren!), sind andere schon weiter vorgeschritten und gehen im "planetarischen Greisenalter" ihrem Ende entgegen, demselben Ende, das auch unseser Erde sicher bevorsteht. Durch Ausstrahlung der Wärme in den kalten Weltraum wird die Temperatur allmählich so herabgesetzt, dass alles tropfbar flüssige Wasser zu Eis erstarrt; damit hört die Möglichkeit organischen Lebens auf. Zugleich zieht sich die Masse der rotierenden Weltkörper immer stärker zusammen; ihre Umlaufsgeschwindigkeit ändert sich langsam. Die Bahnen der kreisenden Planeten werden immer enger, ebenso diejenigen der sie umgebenden Monde. Zuletzt stürzen die Monde in die Planeten und diese in die Sonnen, aus denen sie geboren sind. Durch diesen Zusammenstoß werden wieder ungeheure Wärme-Mengen erzeugt. Die zerstäubte Masse der zerstoßenen kollidierten Weltkörper verteilt sich frei im unendlichen Weltraum, und das ewige Spiel der Sonnenbildung beginnt von Neuem.

Das großartige Bild, welches so vor unseren geistigen Augen die moderne Astrophysik aufrollt, offenbart uns ein ewiges Entstehen und Vergehen der unzähligen Weltkörper, einen periodischen Wechsel der verschiedenen kosmogenetischen Zuständ, welche wir im Universum nebeneinander beobachten. Während an einem Ort des unendlichen Weltraums aus einem diffusen Nebelfleck ein neuer Weltkeim sich entwickelt, hat ein anderer an einem weit entfernten Ort sich bereits zu einem rotierenden Ball von glutflüssiger Materie verdichtet; ein dritter hat bereits an seinem Äquator Ringe abgeschleudert, die sich zu Planeten ballen; ein vierter ist schon zur mächtigen Sonne geworden, deren Planeten sich mit sekundären Trabanten umgeben haben, den Monden usw. Und dazwischen treiben sich im Weltraum Milliarden von kleineren Weltkörpern umher, von Meteoriten und Sternschnuppen, die als scheinbar gesetzlose Vagabunden die Bahn der größeren kreuzen, und von denen täglich ein großer Teil in die letzteren hineinstürzt. Dabei ändern sich beständig langsam die Umlaufs-Zeiten und die Bahnen der jagenden Weltkörper. Die erkalteten Monde stürzen in ihre Planeten, wie diese in ihre Sonnen. Zwei entfernte Sonnen, vielleicht schon erstarrt, stoßen mit ungeheurer Kraft aufeinander und zerstäuben in nebelartige Massen. Dabei entwickeln sie so kolossale Wärmemengen, dass der Nebelfleck wieder glühend wird, und nun wiederholt sich das alte Spiel von Neuem. In diesem Perpetuum mobile bleibt aber die unendliche Substanz des Universum, die Summe ihrer Materie und Energie ewig unverändert, und ewig wiederholt sich in der unendlichen Zeit der periodische Wechsel der Weltbildung, die in sich selbst zurücklaufende Metamorphose des Kosmos. Allgewaltig herrscht das Substanz-Gesetz.

II. Fortschritte der Geologie

Viel später als der Himmel wurde die Erde und ihre Entstehung Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Die zahlreichen Kosmogenien alter und neuer Zeit wollten zwar über die Entstehung der Erde ebensogut Auskunft geben wie über diejenige des Himmels; allein das mythologische Gewand, in welches sie sich sämtlich hüllten, verriet sofort ihren Ursprung aus der dichtenden Phantasie. Unter all den zahlreichen Schöpfungssagen, von denen uns die Religions- und Kultur-Geschichte Kunde gibt, gewann eine einzige bald allen übrigen den Rang ab, die Schöpfungsgeschichte des Moses, wie sie im ersten Buch des Pentateuch (Genesis) erzählt wird. Sie entstand nach dem Tod des Moses (wahrscheinlich erst 800 Jahre später); ihre Quellen sind aber größtenteils viel älter und auf assyrische, babylonische und indische Sagen zurückzuführen. Den größten Einfluss gewann diese jüdische Schöpfungssage dadurch, dass sie in das christliche Glaubensbekenntnis hinübergenommen und als "Wort Gottes" geheiligt wurde. Zwar hatten schon 500 Jahre vor Christus die griechischen Naturphilosophen die natürliche Entstehung der Erde auf dieselbe Weise wie die der anderen Weltkörper erklärt. Auch hatte schon damals Xenophanes von Kolophon die Versteinerungen, die später so große Bedeutungen erlangten, in ihrer wahren Natur erkannt; der große Maler Leonardo da Vinci hatte im 15. Jahrhundert ebenfalls diese Petrefakten für die fossilen Überreste von Tieren erklärt, die in früheren Zeiten der Erdgeschichte gelebt hatten. Allein die Autorität der Bibel, insbesondere der Mythos von der Sündflut, verhinderte jeden weiteren Fortschritt der wahren Erkenntnis und sorgte dafür, dass die mosaischen Schöpfungssagen noch bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts in Geltung blieben. In den Kreisen der orthodoxen Theologen besitzen sie dieselbe noch bis auf den heutigen Tag. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begannen unabhängig davon wissenschaftliche Forschungen über den Bau der Erdrinde und wurden daraus Schlüsse auf ihre Entstehung abgeleitet. Der Begründer der Geognosie, Werner in Freiburg, ließ alle Gesteine aus dem Wasser entstehen, während Voigt und Hutton (1788) richtig erkannten, dass nur die sedimentären, Petrefakten führenden Gesteine diesen Ursprung haben, die vulkanischen und plutonischen Gebirgsmassen dagegen durch Erstarrung feurigflüssiger Massen entstanden sind.

Der heftige Kampf, welcher zwischen jener neptunistischen und dieser plutonistischen (vulkanischen) Schule entstand, dauerte noch während der ersten drei Dezennien des 19. Jahrhunderts fort; er wurde erst geschlichtet, nachdem Karl Hoff (1822) das Prinzip des Aktualismus begründet und Charles Lyell dasselbe mit größtem Erfolge für die ganze natürliche Entwicklung der Erde durchgeführt hatte. Durch seine "Prinzipien der Geologie" (1830) wurde die überaus wichtige Lehre von der Kontinuität der Erdumbildung endgültig zur Anerkennung gebracht, gegenüber der Katastrophentheorie von Cuvier. Die Paläontologie, welche der Letztere durch sein Werk über die fossilen Knochen (1812) begründet hatte, wurde nun bald zur wichtigsten Hilfswissenschaft der Geologie, und schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich dieselbe so weit entwickelt, dass die Haupt-Perioden in der Geschichte der Erde und ihrer Bewohner festgelegt waren. Die dünne Rindenschicht der Erde war nun mit Sicherheit als die Erstarrungs-Kruste des feurigflüssigen Planeten erkannt, dessen langsame Abkühlung und Zusammenziehung sich ununterbrochen fortsetzt. Die Faltung der erstarrenden Rinde, die "Reaktion des feurig-flüssigen Erdinnern gegen die erkaltete Oberfläche", und vor Allem die ununterbrochene geologische Tätigkeit des Wassers sind die natürlich wirkenden Ursachen, welche tagtäglich an der langsamen Umbildung der Erdrinde und ihrer Gebirge arbeiten.

Drei überaus wichtige Ereignisse von allgemeiner Bedeutung verdanken wir den glänzenden Fortschritten der Erdgeschichte. Erstens wurden damit aus der Erdgeschichte alle Wunder ausgeschlosen, alle übernatürlichen Ursachen beim Aufbau der Gebirge und der Umbildung der Kontinente. Zweitens wurde unser Begriff von der Länge der ungeheuren Zeiträume, die seit deren Bildung verflossen sind, erstaunlich erweitert. Wir wissen jetzt, dass die ungeheuren Gebirgsmassen der paläozoischen, mesozoischen und cänozoischen Formationen nicht viele Jahrtausende, sondern viele Jahrmillionen (weit über hundert!) zu ihrem Aufbau brauchten. Drittens wissen wir jetzt, dass alle die zahlreichen, in diesen Formationen eingeschlossenen Versteinerungen nicht wunderbare "Naturspiele" sind, wie man noch vor 150 Jahren glaubte, sondern die versteinerten Überreste von Organismen, welche in früheren Perioden der Erdgeschichte wirklich lebten, und welche durch langsame Umwandlung aus vorhergegangenen Ahnenreihen entstanden sind.

III. Fortschritte der Physik und Chemie

Die zahllosen, wichtigen Entdeckungen, welche diese fundamentalen Wissenschaften im 19. Jahrhundert gemacht haben, sind so allbekannt und ihre praktische Anwendung in allen Zweigen des menschlichen Kulturlebens liegt so klar vor aller Augen, dass wir hier nicht Einzelnes hervorzuheben brauchen. Allen voran hat die Anwendung der Dampfkraft und Elektrizität dem 19. Jahrhundert den charakteristischen "Maschinen-Stempel" aufgedrückt. Aber nicht minder wertvoll sind die kolossalen Fortschritte der anorganischen und organischen Chemie. Alle Gebiete unserer modernen Kultur, Medizin und Technologie, Industrie und Landwirtschaft, Bergbau und Forstwirtschaft, Landtransport und Wasserverkehr, sind bekanntlich im Laufe des 19. Jahrhunderts - und besonders in dessen zweiter Hälfte - dadurch so sehr gefördert worden, dass unsere Großväter aus dem 18. Jahrhundert sich in dieser fremden Welt nicht auskennen würden. Aber wertvoller und tiefgreifender noch ist die ungeheure theoretische Erweiterung unserer Natur-Erkenntnis, welche wir der Begründung des Substanz-Gesetzes verdanken. Nachdem Lavoisier (1789) das Gesetz von der Erhaltung der Materie aufgestellt und Dalton (1808) mittels desselben die Atom-Theorie neu begründet hatte, war der modernen Chemie die Bahn eröffnet, auf der sie in rapidem Siegeslauf eine früher nicht geahnte Bedeutung gewann. Dasselbe gilt für die Physik betreffend das Gesetz von der Erhaltung der Energie. Die Entdeckung desselben durch Robert Mayer (1842) und Hermann Helmholtz (1847) bedeutet auch für diese Wissenschaft eine neue Periode fruchtbarster Entwicklung; denn nun erst war die Physik im Stande, die universelle Einheit der Naturkräfte zu begreifen und das ewige Spiel der unzähligen Naturprozesse, bei welchen in jedem Augenblick eine Kraft in die andere umgesetzt werden kann.

IV. Fortschritte der Biologie

Die großartigen und für unsere ganze Weltanschauung bedeutsamen Entdeckungen, welche die Astronomie und Geologie im 19. Jahrhundert gemacht haben, werden noch weit übertroffen von denjenigen der Biologie; ja wir dürfen sagen, dass von den zahlreichen Zweigen, in welchen diese umfassende Wissenschaft vom organischen Leben sich neuerdings entfaltet hat, der größere Teil überhaupt erst im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Wie wir im ersten Abschnitt gesehen haben, sind innerhalb desselben alle Zweige der Anatomie und Physiologie, der Botanik und Zoologie, Ontogenie und Phylogenie, durch unzählige Entdeckungen und Erfindungen so sehr bereichert worden, dass der heutige Zustand unseres biologischen Wissens denjenigen vor hundert Jahren um das Vielfache übertrifft. Das gilt zunächst quantitativ von dem kolossalen Wachstum unseres positiven Wissens auf allen jenen Gebieten und ihren einzelnen Teilen. Es gilt aber ebenso und noch mehr qualitativ von der Vertiefung unseres Verständnisses der biologischen Erscheinungen, von unserer Erkenntnis ihrer bewirkenden Ursachen. Hier hat vor allen Anderen Charles Darwin (1859) die Palme des Sieges errungen; er hat durch seine Selektions-Theorie das große Welträtsel von der "organischen Schöpfung" gelöst, von der natürlichen Entstehung der unzähligen Lebensformen durch allmähliche Umbildung. Zwar hatte schon fünfzig Jahre früher der große Lamarck (1809) erkannt, dass der Weg dieser Transformation auf der Wechselwirkung von Vererbung und Anpassung beruhe; allein es fehlte ihm damals noch das Selektions-Prinzip, und es fehlte ihm vor Allem die tiefe Einsicht in das wahre Wesen der Organisation, welche erst später durch die Begründung der Entwicklungsgeschichte und der Zellentheorie gewonnen wurde. Indem wir allgemein die Ergebnisse dieser und anderer Disziplinen zusammenfassen und in der Stammesgeschichte der Organismen den Schlüssel zu ihrem einheitlichen Verständnis fanden, gelangten wir zur Begründung jener monistischen Biologie, deren Prinzipien ich (1866) in meiner "Generellen Morphologie" festzulegen versucht habe. (Vergl. meine "Natürliche Schöpfungsgeschichte", X. Aufl. 1902, und Carus Sterne: "Werden und Vergehen", IV. Aufl. 1900).

V. Fortschritte der Anthropologie

Allen anderen Wissenschaften voran steht in gewissem Sinne die wahre Menschenkunde, die wirklich vernünftige Anthropologie. Das Wort des alten Weisen: "Mensch, erkenne dich selbst" (Homo, nosce te ipsum) und das andere berühmte Wort: "Der Mensch ist das Maß aller Dinge" sind ja von Alters her anerkannt und angewendet. Und dennoch hat diese Wissenschaft - im weitesten Sinne genommen - länger als alle anderen in den Ketten der Tradition und des Aberglaubens geschmachtet. Wir haben im ersten Abschnitt gesehen, wie langsam und spät sich erst die Kenntnis vom menschlichen Organismus entwickelt hat. Einer ihrer wichtigsten Zweige, die Keimesgeschichte, wurde erst 1828 (durch Baer) und ein anderer, nicht minder wichtiger, die Zellenlehre, erst 1838 (durch Schleiden und Schwann) sicher begründet. Noch später aber wurde die "Frage aller Fragen" gelöst, das gewaltige Rätsel vom "Ursprung des Menschen". Obgleich Lamarck schon (1809) den einzigen Weg zur richtigen Lösung desselben gezeigt und "die Abstammung des Menschen vom Affen" behauptet hatte, gelang es doch Darwin erst fünfzig Jahre später, diese Behauptung sicher zu begründen, und erst 1863 stellte Huxley in seinen "Zeugnisssen für die Stellung des Menschen in der Natur" die gewichtigsten Beweise dafür zusammen. Ich selbst habe sodann in meiner Anthropogenie (1874) den ersten Versuch gemacht, die ganze Reihe der Ahnen, durch welche sich unser Geschlecht im Laufe vieler Jahrmillionen aus dem Tierreich langsam entwickelt hat, im historischen Zusammenhang darzustellen.